ein wanderbericht aus dem indischen himalaya.
hemd kundh & lord curzon trail

Nun bin ich schon ein paar Wochen unterwegs auf den Spuren der hinduistischen Kultstätten und reise weiter, wieder hinunter ins Tal nach Govindghat. Hier mache ich nur Station um Organisatorisches zu regeln und nehme mir einen Träger um hinauf nach Ghangaria zu wandern. Mein Ziel ist das Valley of the Flowers, eine wunderschön beschriebene abgelegene Hochebene im Gebirge. Aber es kommt alles ganz anders.

Der Weg nach Ghangaria ist einfach, jedoch recht steil und ich bin froh, meinen großen Rucksack nicht selber tragen zu müssen. Es kommen mir immer wieder Gedanken, ob es denn wohl richtig ist, sich den Rucksack tragen zu lassen. Der arme Rücken dieses kleinen Mannes! Dann rufe ich mich zur Vernunft und sehe ein, dass diese Gedanken müßig sind, zu keinem Resultat führen und der kleine Mann sich seinen Lebensunterhalt nunmal damit verdient, anderer Leute Gepäck zu tragen. Punkt.

Auf dem Tagesmarsch dorthin begegne ich immer wieder furchtbar zerstörten Flussbetten, eingestürzten Häusern und komplett vernichteten Dörfern und erfahre erst jetzt, dass ein Jahr zuvor genau hier eine schlimme Naturkatastrophe gewütet hat. Während ununterbrochener Regenfälle sind die Flüsse aus ihren Ufern getreten und haben im Schlamm alles mitgezogen was ihnen im Weg stand. 5.000 Tote brachte das Unglück mit sich und die verheerenden Ausmaße sind noch heute deutlich sichtbar.

Angekommen in Ghangaria teilt man mir mit, dass das Valley of the Flowers nicht erreichbar ist, wegen der Erdrutsche, Konsequenzen eben dieser Naturgewalten. Ich ändere schweren Herzens meinen Plan und beschließe nun doch auf den Hem Kund zu steigen. Dieser ist ein Wallfahrtsort der Sikhs und liegt mit seinem vereisten See und den sieben Gipfeln, die ihn umgeben, auf 4.600 Metern Höhe. Was ich anfänglich als uninteressant, gar lästig empfand, wird sich überraschenderweise als eine der kuriosesten Erfahrungen meiner Reise entpuppen! Ich steige diesen langen, mühsamen Weg hinauf inmitten von Hunderten von Sikh-Gläubigen. Ich bin die Einzige nicht dem Sikh-Orden-Angehörige, dazu weiß, Frau und alleine; ich bin DIE Attraktion des Tages! Jeder auf diesem Berg grüßt mich, ich bin mittlerweile in Dutzenden von Familienalben verewigt und die Hälfte aller Pilger dieses Tages kennt mich mit Namen und hat mir die Hand geschüttelt. Ich komme gar nicht recht vorwärts weil ich unentwegt anhalten muss um lächelnd und geduldig alle Fragen zu beantworten. Ich sehe die Ungläubigkeit in den Augen derer, die mein Unterfangen nicht begreifen können, dass auch ich ihren heiligen Berg besteigen möchte. Es ist ein wunderbares Gefühl und ich habe mich noch nie so aus der Welt gespürt.

Jeder, den ich hier treffe und der sich vorgenommen und versprochen hat, den Hem Kund zu besteigen und den heiligen See zu besuchen, der schafft es tatsächlich bis zum Ziel! Man sieht Frauen in Saris und Sandalen, keiner hat wirklich passendes Schuhwerk an, kaum einer hat eine auch nur halbwegs so gute Kondition wie ich, aber… alle schaffen es bis nach oben. Es ist ihr Glaube, der ihnen dabei hilft! Einige lassen sich in Sänften tragen, kranke oder alte Menschen; und ich sehe die glänzenden Augen derjenigen, die oben ankommen, sich die Kleidung vom Leib reißen und in den eisigen, zum Teil noch zugefrorenen See tauchen.

Es sind viele Männergruppen unterwegs, jeglichen Alters, Familien oder einzelne Pilger; die Männer haben alle einen wunderschön geschwungenen orangefarbigen Turban auf dem Kopf, lange, minuziös gepflegte Schnurrbärte und manche alte Herren haben sogar den Degen in der Scheide stecken. Es ist für mich eine unglaublich intensive Erfahrung und ich danke dafür, so etwas Außergewöhnliches erleben zu dürfen.

Zum Reisen und Weiterkommen benutze ich stets öffentliche Busse und Jeeps, manchmal bin ich tagelang unterwegs, man baucht hier für hundert Kilometer oftmals einen ganzen Tag. Wir fahren auf schwindelerregenden Straßen, entlang wunderschöner Landschaften. Es ist etwas eng in diesen Gefährten und sehr warm, muffige Luft und Essensgerüche tragen ihren Teil dazu bei. Manchmal muss ich lächeln wenn ich da so eingeengt sitze, in einem Jeep, in dem bei uns 7 Personen zugelassen wären und wir zu 17 darin sitzen,ohne diejenigen auf dem Dach zu zählen, die ich ja nicht sehe. Dann denke ich an meinen zwei-Meter-großen-Vater und seine langen Beine und die Economy Class der Lufthansa, die anscheinend schon zu eng ist. Ganz zu schweigen von den Bussen, in die einfach alle hineinpassen, die es hinein schaffen, sich hinsetzen und sofort übergeben müssen; also hat man da mal einen schönen frischen Fensterplatz ergattert, dann muss man ihn eigentlich sofort wieder räumen, um den Sich-Übergebenden Platz zu machen.

Ich fahre weiter hinunter nach Joshimat. Ich habe gelesen, dass man von hier sehr schöne Wanderungen unternehmen kann, es gibt spezielle Reiseagenturen, die so etwas organisieren und ich bin guter Dinge als ich dort ankomme. Ich suche mir ein Hotel, was kein leichtes Unterfangen ist und stelle fest, dass hier fast alle Fremdenverkehrs-Einrichtungen geschlossen haben. Die Überschwemmungen vom Vorjahr haben den Tourismus zum Erliegen gebracht und ich bin, so wie es aussieht, die einzige Fremde in dieser Stadt. Internet gibt es nicht in diesen Tagen, keiner weiß, ob und wann es wieder funktionieren wird, Service-oder Informationsdienste auch nicht. Ich akzeptiere meine Lage, mache mir keine Sorgen und kaufe mir ein Bier. Das brauche ich jetzt nach wochenlanger, von äußeren Umständen auferlegter Abstinenz. Ich finde einen winzigen Shop, der Alkohol verkauft. Mittlerweile erkenne ich diese kleinen, etwas zwielichtigen Läden an den Männerschlangen, die sich davor bilden. Die leicht angetrunkenen Herren verbringen hier ihre Nachmittage und albern ein bisschen herum. Diese Läden befinden sich in Hinterhöfen oder kleinen Gassen und sind stets durch ein Gitter geschützt, durch das man Bier oder Whiskey kaufen kann, indischen Whiskey versteht sich. Ich möchte anstehen, so wie sich das gehört, werde aber von jedem in der Schlange gebeten vorzutreten: keiner möchte sich dieses Spektakel entgehen lassen und zusehen wie und was ich hier erstehen möchte. Ich kaufe mir eine Halbliterflasche Bier und gehe in mein Hotelzimmer, setzte mich auf mein einfaches Bett, die Sonne scheint durch die halb zugezogenen Blumengardinen und genieße ein lauwarmes, viel zu süßes Bier… vielleicht das Beste meines Lebens!

Ich lege eine zweitägige Pause ein, in der ich trotz der aufgetretenen Schwierigkeiten ein Trekking zu planen versuche. Ich möchte endlich eine schöne große Wanderung machen, kenne schon meine Tour und das Ziel. Ich klappere alle Trekkingagenturen ab, zwei von den vielen im Lonely Planet beschriebenen haben tatsächlich geöffnet und mit einer finde ich einen Kompromiss, doch eine Wanderung zu unternehmen. Allerdings werde ich alleine starten müssen, es gibt keine Touristen, mit denen ich mir die Tour, Kosten und das Vergnügen teilen könnte. Es werden mich zwei nepalesische Jungs begleiten, die mich führen, mich bekochen und mein Zelt tragen werden.

Am Abend vor dem Start sitze ich wieder in meinem Hotelzimmer, diesmal ohne Bier und fühle plötzlich wie die Einsamkeit mit vehementer Stärke in mir aufsteigt. Seit Tagen, ja Wochen, rede ich mit niemandem (außer ein paar Wörtern Kauderwelsch-Hindi), sehe keine westlichen Gesichter und bin die meiste Zeit auf mich alleine gestellt. Ich fange an, diese Einsamkeit zu mögen. Es gab Momente, in denen ich meinen Kopf als ein Gefängnis ansah, indem ich wie ein Hamster im Kreis herumlief, eingeengt zwischen meinen unaufhörlichen Gedanken, die mich in ihren Klauen hielten… ich war kurz davor durchzudrehen, habe angefangen mit mir selbst zu reden. Aber jetzt, nach so vielen Stunden des Alleinseins, finde ich meine Gesellschaft eigentlich ganz passabel, ich habe mich mit mir selber angefreundet, gehe mir nicht mehr auf die Nerven sonderngenieße die Zweisamkeit: ich mit mir alleine zusammen. Da ist so eine objektive Stimme in mir, die sich alles anschaut, meine Gedankengänge verfolgt, sich jedoch nicht mit ihnen identifiziert und somit das Sagen über diese hat. Diese Stimme hat mittlerweile die Kontrolle über mich ergriffen und sagt mir, was ich denken und tun soll und welcher Stimmung ich zu sein habe. Es ist ein gutes Gefühl, einen solchen Wächter in mir zu haben. Die Einsamkeit hat diesen Wächter erweckt und ich hoffe, dass er mich von nun an mein Leben lang begleiten wird.

Ich starte auf meine einwöchige Wanderung, den Lord Curzon Trail, der über den Kuari Pass geht. Meine Begleiter und Führer sind langsamer als ich und somit habe ich die Freiheit, immer ein paar Meter voraus zu sein und die Landschaft für mich alleine genießen zu können. Mein Blick wird ständig vom Nanda Deviangezogen, der „Göttin der Freude“, dem zweitgrössten Berg Indiens nach dem Kangchendzönga in Sikkim. Er misst 7.810 Meter und ist wunderschön, seine Spitzen sehen aus als würden sie über die vereinzelten Quellwolken wegfliegen. (Christoph Ransmayr: „Der Fliegende Berg“).

Wir zelten an Orten, an denen es stets frisches Wasser gibt, Quellen oder Bachläufe, in denen ich mich wasche und aus denen wir unser Kochwasser holen. Ich fühle mich gut, frei und ich liebe dieses Gefühl, mit so Wenig und Einfachem so zufrieden sein zu können. In solchen Situationen kommt der Pfadfinder, der ich leider nie gewesen bin, in mir hoch. Im Zelt und am Lagerfeuer werde ich zum Kind: ich klettere nach geschaffter Wanderung noch bis zum Sonnenuntergang auf die nahegelegenen kleinen Gipfel oder Felsen, horche aus meinem Zelt in die Nacht hinein um die Geräusche der Tiere zu erkennen und genieße die Einsamkeit und Freiheit, die man hier in der Höhe empfindet.

Wir treffen auf viele Schafherden mit hunderten von Tieren. Soweit das Auge reicht, sehe ich nur Schafe, Ziegen und nochmal Schafe. Irgendwann scheint es mir, als sähe ich nur noch Wolle, viele lebende Wollknäuel! Einmal, bei ungemütlichem Regenwetter kommen wir bei den Hirten im Zelt unter und sie bringen mir das Karten spielen und Wasserpfeife rauchen bei. Sie amüsieren sich köstlich über meine Ignoranz in beiden dieser Dinge; und ich mit ihnen. Wir müssen Milch für unseren Chai holen. Dazu fange ich die Ziegenmutter ein, die ihrem Kleinen die Milch gibt und melke sie nun an ihren spitzen Zitzen. Der Chai mit Ziegenmilch ist unglaublich gut, tierisch gut!

Wir ziehen weiter und auf diesen langen und stillen Tagen in der unglaublich schönen Natur habe ich viele Gedanken. Ich verstehe plötzlich in meinem tiefsten Inneren und es geschieht wie ein Fausthieb ins Gesicht nach langer intensiver Beschäftigung mit dem Thema, dass das gesamte Leben nur dazu dient, mich selber wiederzufinden. Ich muss die Verbindung mit meinem Selbst finden, mit meinem Kern, der in mir haust, der gesund, frisch und lebendig ist und der mich die Dinge meines Lebens in Ruhe und mit Selbstsicherheit angehen lässt. Es gibt diesen Kern in uns, wir haben nur leider den Weg zu ihm verloren. In unserer westlichen Gesellschaft wird dieser Weg nicht mehr von Generation zu Generation weitergegeben, so, wie es einmal Tradition war, er wird nicht mehr unterrichtet an den Schulen und so hat er sich langsam aus den Herzen der Menschen geschlichen. Hier im Orient ist das noch völlig anders, hier gibt es noch eine direkte Verbindung zu dem Selbst, das in uns steckt. Unsere Aufgabe ist es, diese Verbindung wieder herzustellen um ein besseres Leben leben zu können. Nein. Um DAS LEBEN sein zu können.

Über Rudrapayak fahre ich zurück nach Rishikesh. In dieser Nacht, in der ich von den Bergen absteige und ins Tal hinabfahre, entlang der großen Flüsse, zurück in die „Zivilisation“, kommt es mir so vor, als ob die Menschen mich nicht mehr sehen würden. Ich bin unterwegs in diesem kleinen indischen Städtchen, esse etwas an einem Stand, setze mich zu einem Chai nieder in einem Teestall aber niemand scheint mich wahrzunehmen. Ich bin unsichtbar geworden. Meine Neutralität, die ich in mir spüre, ist auch nach außen hin sichtbar geworden. Die anderen sehen mich, nehmen mich jedoch nicht wahr. Ich kann mich unter die Inder mischen, unter die Pilger oder die westlichen Touristen, aber keiner schaut mich an oder spricht mit mir. Ich kann alleine bleiben und habe dadurch die kostbare Möglichkeit, die anderen beobachten zu können. Ich fühle mich vollkommen anonym und das ist ein wunderbares Gefühl.

Nun bin ich zurück in Rishikesh nach einem Monat des stetigen Wanderns im großen Himalaya. Das, was mich hier anfangs eher abstieß ist nun ein willkommener Gruß. Ich setze mich gerne in die Korbstühle und trinke einen frisch gepressten Saft, schlendere über die mit Affen bewohnten Brücken inmitten all der westlichen Gesichter und lasse mich in den vielen kleinen schönen Flussrestaurants mit gutem mondänem Essen verwöhnen. Ich nehme mir einen Yogalehrer für die frühen Morgenstunden, wenn es noch kühl ist, lasse mich genüsslich massieren und spiele einfach mal die Touristin, kaufe mir einen Rock und Ohrringe und genieße es. Ich habe es mir verdient; kann es jedoch kaum abwarten hier meine Zelte wieder abzubrechen und weiterzuziehen: Manali, Ladakh und das Spity-Valley sind meine nächsten Ziele, noch einsamer, noch extremer!

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